Volkstrauertag, - Bundespräsident Joachim Gauck redet; - Ministerpräsident Horst Seehofer redet; - Oberbürgermeister Gerold Noerenberg redet, - hier im Stadtteil redet ein Mitglied des Stadtrates aus dem Ort und immer weniger hören zu !
Der Auslöser für den Volkstrauertag, der I. Weltkrieg, liegt bald 100 Jahre zurück - der II: Weltkrieg, 1939-1945, und das Unrecht der NS-Herrschaft ist seit 68 Jahren Geschichte.
Eine Generation rechnet 25 - 33 Jahre. Zwei Generationen ist es also in jedem Fall her, dass der große Krieg und ein verbrecherisches System, wie eine Spinne im Netz, die Menschen seiner Zeit erschüttert, verändert und verpflanzt, mehr aber noch gequält, gefoltert und vernichtet hat. Zu akzeptieren, dass Eltern, Großeltern - ohne direkte Schuldzuweisung - trotzdem Teil dieses Systems waren, fällt schwer. Wer wollte seinen Lieben, der Mutter,dem Vater Schuld zuweisen. Ich nicht - und selbst wenn, was würde das heute noch ändern?
Im Tod, da waren sie alle gleich: der Soldat mit dem EK 1 mit Kopfschuß, weil er das Gelände vor der Stellung einsehen wollte, der KZ-Häftling mit dem Roten Winkel, die Juden, die Roma, Kinder und Alte mit geistiger und körperlicher Behinderung, Menschen, die vielleicht bei der Selektion ungeschickt da standen oder schon lange vorher ausgesucht waren, weil sie politisch anders dachten.
Lang, lang ist's her. "Warum hört diese Erinnerung (die ja auch Anschuldigung ist) nicht endlich auf? Was soll denn diese permanente Selbstquälerei?", hat mich unlängst ein Bekannter unwirsch gefragt. Auch ich, 1953 geboren, kann doch nichts dafür - und warum soll ich auf ewig in Sack und Asche gehen? Gesprächszitat: "Andere Völker haben auch Dreck am Stecken: Die Amis haben ihre Indianer, die Türken ihre Armenier, und so weiter." -Zitatende-
So einfach ist es nicht - aber letzlich geht es nicht um Rechtfertigung und Verdrängung. Der Volkstrauertag ist nicht dazu da immer in der gleichen Wunde herum zu stochern. Die Toten sind tot, die Reihen der Trauernden gelichtet.
Aus dem Trauer- einen Gedenktag zu machen, das ist schon lange angezeigt. Gedenken und Mahnen ist die Stufe, die der Trauer folgt, wenn die Wunden vernarbt, die Opfer des Terrors verstorben sind. Warum noch "Volkstrauertag" in dieser Kulisse begehen? Etwa, weil wir das seit Jahrzehnten halt so machen?
Nein, das wäre zu wenig - und wegen der Unfallopfer im Alltag brauchen wir uns nicht vor der Ehrentafel der Kriegsgefallenen unseres Ortes versammeln. Die Trauerfälle des täglichen Lebens sind naturgemäß schmerzlicher Alltag. Weshalb sind wir dann heute Abend hier?
Ich kann nur für mich sprechen: Ich bin heute hier, weil ich zutiefst dankbar bin. Ich spreche heute wieder hier, weil es mir zutiefst wichtig ist darauf hinzuweisen, welche Gnade uns durch 68 Jahren Frieden und Rechtsstaatlichkeit wiederfahren ist. Mir ist erspart geblieben, meine drei erwachsenen Söhne einer wie auch immer gearteten "Sache" anheim geben zu müssen, ohne zu wissen, ob ich noch einen davon jemals wieder sehe. Sie mussten nicht töten, brennen oder morden, nicht einmal in Notwehr oder weil sie Angst hatten, einen Befehl zu verweigern. Meine Familie konnte nachts durchschlafen. Kein Sirenengeheul hat uns in den Keller getrieben, wo wir in Todesangst auf die Entwarnung warteten. Man könnte die Beschreibung unseres Glücks beliebig fortsetzen.
Und dieses Glück, diese Gnade, die auch die Ihre ist, die ist nicht selbstverständlich! Schalten Sie den Fernseher ein. Jeden Abend können Sie sehen, wie es auch anders sein könnte. Zum Beispiel in Syrien, da wären Sie gerade mitten darinnen.
Dankbarkeit alleine aber reicht nicht aus, gerade zu einer Zeit, da sich der Ausbruch des I. Weltkrieges, der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", zum 100. Male jährt. Allein das Wort "Ausbruch" ist schon falsch. Es sugeriert Naturgewalt, wie die eines Vulkanausbruchs. Aber es waren keine Naturgewalten, die zu diesem gigantischen Gemetzel führten. Es waren unverantwortliche, ja verbrecherische Entscheidungen zum Teil untereinander verwandter Monarchen und letztlich gewissenloser Miltärs, die sich mit "Ausblutungsstrategie" befassten, frei nach dem Motto: Deutschland hat mehr Soldaten als Frankreich!
Unsere Dankbarkeit für 68 Jahre Frieden in unserer Heimat, die den "Volkstrauertag" auch zum Friedensdanktag macht, das Gedenken an die Opfer von Kriegen und Gewalt und die Eindrücke, die der Alltag in anderen Ländern dieser Erde vermittelt, die lassen den dauerhaften Sinn der Feiern zum Volkstrauertag deutlich erkennen: Durch Erkenntnis zu Toleranz zu gelangen, das Bewußtsein für den Wert einer friedlichen Gesellschaft bis hin zum täglichen Miteinander zu schärfen und uns alle zu motivieren, Bestrebungen, das friedliche Miteinander von Menschen, Völkern und Rassen zu stören, dorthin zu verdrängen, wo sie hingehören: nämlich auf den Müll der Geschichte.
Unsere Toten, Sie sollen in Frieden ruhen. Ihre Opfer und Leiden dürfen nicht vergeblich sein!
Ulrich Seitz